Exzerpt aus der Laudatio Isabelle Schad bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2019 in Essen
[…] Isabelle Schad hat sich, mit der sie auszeichnenden leisen, aber äußerst kraftvollen Beharrlichkeit vier Jahre lang buchstäblich mit ihren eigenen Händen einen Raum gebaut – gemeinsam mit anderen (natürlich, wie man fast sagen muss). In der Wiesenburg im Berliner Wedding, einem ehemaligen Obdachlosenasyl: als Schad dort begann, eine baufällige Ruine – heute ein lebendiger Kulturort, der fest im Kiez verankert ist. Sie hat sich damit einen Ort geschaffen, an dem sie kontinuierlich arbeiten, forschen und entwickeln kann – und den sie für andere öffnen, mit anderen teilen kann. Was sie tut. Hier finden auch regelmäßig ihre „Open Practice Sessions“ statt, in denen sie andere einlädt, mit ihr gemeinsam zu üben. Diese „Sessions“ sind tatsächlich offen, richten sich nicht nur an professionelle Tänzer*innen: jede*r ist eingeladen zu kommen, sie freut sich, wenn es sich mischt und arbeitet seit vielen Jahren schon auch mit sogenannten ‚Laien‘. Auch, um ihre Erfahrungen und ihr Wissen weiterzugeben – an alle, die den Weg zu ihr finden. Ich selbst hatte kürzlich die Gelegenheit, im Rahmen des diesjährigen Tanzkongresses in Hellerau an einem Workshop von Isabelle Schad teilzunehmen, der gleichermaßen aus professionellen Tänzer*innen wie ‚Laien‘ bestand. Und tatsächlich, das gemeinsame Tun, das Üben in und mit der Gruppe hat eine transformierende Kraft. Es verändert – subtil, aber nachhaltig – wie man selbst, wie man in und mit der Welt ist, man begegnet sich und den anderen anders. Mein erster Gedanke danach war: Es würde der Welt besser gehen, wenn alle einmal einen Workshop mit ihr machen würden. Zweifellos meint sie es mit dem ‘Teilen’, dem ‘Öffnen von Räumen’, dem ‘gemeinsamen Tun’ ernst. Man könnte Schad nun leicht Großzügigkeit attestieren – aber dann übersähe man die stille Radikalität, die eben nicht nur ihre künstlerische Arbeit, sondern ihr Handeln überhaupt seit nunmehr über zwanzig Jahren auszeichnet. Denn ‘Großzügigkeit’ setzt voraus, dass man etwas hat, das einem gehört, das man besitzt, und das man deshalb ab- oder weitergeben kann. Und genau hier habe ich meine Zweifel, ob diese Kategorien bei ihr überhaupt sinnvoll angewendet werden können. Es ist eine persönliche These, aber ich würde vermuten, dass “Haben” für sie keine Rolle spielt. Die Konsequenz, mit der sie ihre Suche vom „inneren Sein“ zum „Mit-der-Welt-Sein“ betreibt, läßt für Besitzdenken eigentlich keinen Platz.
Annemie Vanackere ist Intendantin und Geschäftsführerin des HAU Hebbel am Ufer, in Berlin.